Wenn Medikamente abhängig machen
Besonders Frauen und ältere Menschen sind betroffen
Abhängig machen vor allem Schlaf-, Beruhigungs- und Schmerzmittel
© Sven Weber, Fotolia
In Deutschland gibt es fast zwei Millionen Medikamentenabhängige, darunter vor allem Frauen und ältere Menschen. Ärztinnen und Ärzte sowie Apotheker können erheblich dazu beitragen, dass eine Medikamentabhängigkeit frühzeitig erkannt und behandelt wird. Auch das nähere Umfeld sollte aufmerksam sein.
„Immer wieder erleben wir, dass Patienten sich nach einem Medikamentenentzug wie in einem völlig neuen Leben fühlen. Wenn sie aus dem Fenster schauen, sehen sie zum Beispiel, dass draußen etwas Schnee liegt und die Sonne scheint. Solche Dinge haben sie vorher unter Medikamenteneinfluss gar nicht mehr richtig wahrgenommen“, erläutert Prof. Dr. med. Norbert Wodarz, der seit rund 20 Jahren das Zentrum für Suchtmedizin an der Psychiatrischen Uniklinik in Regensburg leitet. Bis zu 1,9 Millionen Erwachsene in Deutschland leiden laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) unter Medikamentenabhängigkeit. Besonders betroffen sind Frauen und ältere Menschen. „Frauen machen ungefähr zwei Drittel der Betroffenen aus. Bei allen anderen Abhängigkeiten ist es eher umgekehrt. Da sind die Männer häufiger betroffen“, weiß Wodarz. Die Anzahl der medikamentenabhängigen Frauen steigt mit zunehmendem Alter.
Unterschiedliche Ursachen bei jüngeren und älteren Menschen
Greifen jüngere Frauen zu Beruhigungstabletten, sind vor allem Schlafstörungen, Ängste, Überforderung, Unruhe und Nervosität die Ursachen. Im höheren Alter treten oft typische Umstellsituationen auf, die eine Medikamentenabhängigkeit auslösen können. „Obwohl sich zum Beispiel viele auf ihre Rente freuen, kommen sie mit dieser Lebensumstellung nicht klar. Was mache ich jetzt mit mir und meinem Leben? Das ist manchmal für ältere Menschen eine ganz existenzielle Frage, auf die sie sich in ihrem Leben nicht wirklich vorbereitet haben“, so Wodarz. Einige können auch ihren Alltagsaktivitäten nicht mehr nachgehen, weil ihre Mobilität eingeschränkt ist. „Die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit lässt nach. Man fühlt sich nicht mehr gebraucht, ist vielleicht zunehmend allein und beschätigt sich umso mehr mit seinen gesundheitlichen Einschränkungen“, erläutert der Chefarzt des Regensburger Zentrums für Suchtmedizin. Auch wenn ein nahestehender Mensch gestorben oder erkrankt ist, kann das nicht jeder gut verarbeiten. „Manche nehmen dann Medikamente, bevor sie nächtelang wach sind und grübeln, wie es weitergehen soll“, sagt Norbert Wodarz. „Wenn man diese Medikamente dann aber regelmäßig weiternimmt, empfindet man auch vom Rest des Lebens nicht mehr so viel“, warnt der Mediziner.
4K-Regel:
- klare Indikation
- korrekte Dosierung
- kurze Anwendung
- kein abruptes Absetzen
4K-Regel
Abhängig machen vor allem Benzodiazepine (rezeptpflichtige Beruhigungs- und Schlafmittel) und Opioide (Schmerzmittel). „Das sind auch die beiden Hauptgruppen, die wir in der Psychiatrischen Uniklinik in Regensburg am häufigsten behandeln“, so Wodarz. Ärztinnen und Ärzte tragen bei diesen Mitteln eine besondere Verantwortung. Ihre Anwendung sollte der „4K-Regel“ folgen: Klare Indikation, kleinste notwendige Dosis, kurze Anwendung und kein abruptes Absetzen. Mediziner sollten vor allem auf Auffälligkeiten achten: Geben Patienten zum Beispiel häufiger an, dass sie ihr Rezept verloren haben? Oder waren sie längere Zeit nicht in der Praxis? Das könnte ein Indiz dafür sein, dass sie sich schon vorher bei anderen Ärzten Rezepte besorgt haben (sogenanntes Doktor-Hopping). Norbert Wodarz empfiehlt außerdem, dass Medikamente wie Benzodiazepine nicht auf Privatrezept verordnet werden. Das sei häufig schon ein Warnsignal, dass Ärzte sich bei der Verordnung auf Kassenrezept unwohl fühlen.
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