Sexualisierte Gewalt unter Jugendlichen
„180Grad“ setzt im Vorfeld potenzieller Taten an
Laut polizeilicher Kriminalstatistik ist jeder zehnte Tatverdächtige in Fällen von sexualisierter Gewalt unter 18 Jahre alt
© SB Arts Media/stock.adobe.com
Bei einer Party haben drei Jungs eine Mitschülerin total abgefüllt. Als sie betrunken genug war und sich nicht mehr wehren konnte, haben sie die Jugendliche ausgezogen, überall begrapscht und Fotos gemacht. Viele Mädchen, aber auch Jungen, erleben blöde Anmache, ungewollte Berührungen sowie erpresste oder sogar gewaltsam erzwungene sexuelle Handlungen durch Gleichaltrige. Das vom Land Niedersachsen geförderte Präventions- und Therapieangebot „180Grad“ der Medizinischen Hochschule Hannover (MMH) will sexualisierte Gewalt unter Jugendlichen langfristig verhindern, indem es bereits im Vorfeld potenzieller Taten ansetzt.
Täter*innenprävention ist der beste Opferschutz
Sexuelle Übergriffe unter Jugendlichen gehören zum Alltag. Laut polizeilicher Kriminalstatistik ist jeder zehnte Tatverdächtige in Fällen von sexualisierter Gewalt unter 18 Jahre alt. Die Bandbreite sexueller Übergriffe unter Jugendlichen ist groß und reicht von sexueller Belästigung und sexuellen Grenzüberschreitungen bis hin zu massiven, strafrechtlich relevanten Formen sexueller Gewalt. Besonders verbreitet unter Jugendlichen ist sexuelle Gewalt mittels digitaler Medien. Dennoch werden sexuelle Grenzverletzungen unter Kindern und Jugendlichen von Erwachsenen häufig bagatellisiert. Prof. Dr. Tillmann Krüger ist Leiter des Arbeitsbereichs Klinische Psychologie und Sexualmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover und hat gemeinsam mit seinem Team das Therapieprojekt „180Grad“ ins Leben gerufen. „Unser Projekt richtet sich an Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren, die das Gefühl haben, mit der Regulation ihrer sexuellen Impulse ein Problem zu haben“, erklärt Krüger. „Dazu zählen einerseits Jugendliche, bei denen es schonmal zu kritischen Situationen gekommen ist und die beispielsweise schonmal von ihrer Partnerin oder ihrem Partner die Rückmeldung bekommen haben, dass sie eine Grenze überschritten haben. Es können aber auch Jugendliche sein, die unter sexualisierten Gewaltfantasien leiden oder merken, dass sie sich zu präpubertären Kindern hingezogen fühlen und möglicherweise Angst haben, eine Pädophilie zu entwickeln.“ Ziel sei es, mit den Jugendlichen eine 180-Grad-Drehung in eine gewaltfreie Richtung zu erarbeiten, indem sie ihre sexuellen Bedürfnisse verstehen und akzeptieren, ohne dass dabei jemand anderes verletzt wird.
Prof. Dr. Tillmann Krüger, Leiter des Arbeitsbereichs Klinische Psychologie und Sexualmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH)
© Medizinische Hochschule Hannover
Ambulanz bietet anonyme Kontaktaufnahme
Jugendliche, die in die Behandlung aufgenommen werden möchten, können zunächst anonym per Telefon, E-Mail oder Messenger Kontakt mit dem Projektbüro aufnehmen. In einem Erstgespräch erfragt ein Psychologe oder einer Psychologin, was der Anlass der Kontaktaufnahme ist und worunter die Person ihrer Meinung nach leidet. „Kommt der oder die Jugendliche prinzipiell für das Therapieprojekt in Frage, findet bereits das zweite Treffen nach Möglichkeit persönlich in der Medizinischen Hochschule statt, um die Patientin oder den Patienten besser kennenzulernen“, so Krüger. In weiteren Terminen kommt es dann zu einer ausführlichen Diagnostik. „Da geht es darum, die Persönlichkeit genau kennenzulernen und individuelle Auffälligkeiten wie Depressionen, psychiatrische Komorbidität oder auch Suchtmittelgebrauch zu ermitteln bzw. auszuschließen“. Nach der Diagnostik wird ein Störungsmodell erstellt, das dem Therapeuten hilft, die passende Behandlung einzuleiten. In vielen Fällen kommt es erst einmal auf das das Entwickeln von empathischen Fertigkeiten oder einer Emotionsregulation an. Einige Jugendliche haben sich bereits so sehr zurückgezogen, dass sie erst einmal lernen müssen, ihren Tagesablauf neu zu strukturieren oder soziale Kontakte wiederaufzubauen.
Beispiele für sexualisierte Gewalt
- verbale Belästigung, sexualisierte Schimpfwörter und Gesten, „Anbaggern“
- Zeigen von Pornografie
- das Aufnehmen und Verbreiten von intimen Fotos und Filmen ohne Zustimmung der betroffenen Person
- sexuelle Übergriffe in Chats und sozialen Netzwerken
- Grapschen, aufgedrängte Küsse
- unerwünschte Berührungen an Brust, Po, Genitalbereich
- Vergewaltigung
Der erste Schritt kostet Mut
Auch Eltern oder andere Angehörige, die sich Sorgen um ihre Kinder machen, können sich an das Team von „180Grad“ wenden und sich beraten lassen. „Wir haben allerdings die Erfahrung gemacht, dass Jugendliche Themen in Bezug auf ihre Sexualität nicht unbedingt mit ihren Eltern besprechen, sondern entweder für sich behalten oder in ihrer Peergroup zur Sprache bringen“, erklärt Krüger. „Insofern ist es ganz wichtig, dass wir die Jugendlichen direkt erreichen und sie sich trauen, selbst den ersten Schritt zu gehen und mit uns Kontakt aufzunehmen.“ Nicht behandelt werden können Jugendliche, gegen die aktuell aufgrund von Sexualstraftaten ermittelt wird, die ihre Strafe nicht vollständig verbüßt haben oder Bewährungsauflagen erfüllen müssen. Auch Jugendliche, die von einer akuten Schizophrenie betroffen sind oder akut suizidgefährdet sind, kommen nicht für das Projekt in Frage. Prof. Dr. Tillmann Krüger: „Diese Jungen und Mädchen brauchen ganz klar zunächst einmal eine klassisch psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung, da unsere Therapie für solche Fälle nicht ausreichend ist.“
Kontakt
„180Grad“ ist das dritte MHH-Angebot im Bereich täterorientierte Prävention neben den bereits etablierten Projekten „Kein Täter werden“ und „I can change“, die sich schwerpunktmäßig an Erwachsende und Heranwachsende richten. Jugendliche, die unter ihren sexuellen Impulsen leiden, können sich telefonisch unter (0511) 532-6746 oder per Mail unter [email protected] an den Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Sexualmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover wenden.
KF (Stand 25.11.2022)
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