Kinder als Gewaltopfer
Täter stammen oft aus persönlichem Umfeld
Dass die Polizei von vielen gewalttätigen Übergriffen keine Kenntnis hat, liegt vor allem an der Täterstruktur. Denn die stammen meist aus dem unmittelbaren Umfeld des Kindes. „Häufig sind das die eigenen Eltern, die sich natürlich nicht selber anzeigen,“ weiß Rainer Becker. Insbesondere bei Sexualdelikten zählen jedoch oft auch Personen aus dem sozialen Umfeld dazu. „Das können Verwandte oder Nachbarn sein, aber auch jemand, der sich um das Kind kümmert. Bei sexuellen Übergriffen ist die Anzeigebereitschaft übrigens höher, je weiter der Täter oder die Täterin von der Familie entfernt ist, erklärt der Experte: „Passiert das familienintern, wird das oft beschönigt oder verschwiegen – aber nicht angezeigt. Oder die Eltern brechen lediglich den Kontakt zu der Person ab. Man will dadurch dem guten Ruf der Familie nicht schaden.“
Sexualdelikte: Kinder werden unter Druck gesetzt
„Bei sexueller Gewalt denkt man meistens an einen überfallartigen Angriff. Aber so läuft das in der Regel gar nicht“, sagt Rainer Becker. Für gewöhnlich bauen Täter über längere Zeit eine Beziehung zum Kind auf. Sie bieten ihm das, was die Eltern nicht bieten können oder wollen: Zeit und Aufmerksamkeit. So soll es auch im Fall Lügde abgelaufen sein. Wie die Polizei erklärte, habe der Hauptverdächtige viel getan, um das Vertrauen der Jungen und Mädchen zu gewinnen. So seien von ihm etwa gemeinsame Ausflüge in Freizeitparks organisiert worden. Zudem soll er ihnen Geschenke gemacht haben. „Irgendwann erfolgt dann der Übergriff“, erklärt der Experte. „Obwohl die Kinder das natürlich nicht wollen, nehmen sie das häufig in Kauf, weil sie Angst haben, ihre Bezugsperson und somit auch deren Zuwendung zu verlieren.“ Zum Teil setzen die Täter die Kinder auch unter Druck, um sie zum Schweigen zu bringen. Beispielsweise wird damit gedroht, dass sie ins Heim kommen oder der Täter ins Gefängnis muss, wenn sie etwas verraten. Was den Schutz der Kinder vor solchen Übergriffen betrifft, sieht Becker daher auch eine sehr große Verantwortung bei den Eltern: „Wenn ich abends lieber die Füße hochlege, als mit meinem Kind Fußball zu spielen, dann freut es sich, wenn plötzlich immer jemand am Bolzplatz ist, der genau das tut. Man kann den Eltern natürlich keine Schuld geben. Aber wenn man sein Kind nicht begleitet, dann tun das manchmal eben auch die Falschen.“
Gewalt ist kein „Unterschichtenphänomen“
Häufig wird angenommen, dass Gewalt nur Kinder betrifft, die aus prekären sozialen Verhältnissen kommen. Das entspricht jedoch nicht den Tatsachen, wie Rainer Becker bestätigt: „Es gibt auch in den so genannten gehobenen Schichten Formen von Misshandlungen, die dann möglicherweise subtiler sind. Da wird das Kind nicht geschlagen, sondern vielleicht in die eiskalte Badewanne gesetzt, wenn es eine Fünf in Englisch hat.“ Dennoch ist bekannt, dass es seltener zu Gewalt innerhalb der Familie kommt, wenn eine offene Gesprächskultur herrscht. „Das hängt dann letztendlich auch mit sprachlicher Kompetenz und der erlernten Impulskontrolle bei Frustrationen oder Verletzungen zusammen. Die ist in Familien mit höherem Bildungsstand häufig besser“, erklärt der Experte. „Je mehr man miteinander redet, desto eher kann man Probleme durch Kommunikation lösen. Gewalt ist sozusagen die Sprache derer, denen die Worte fehlen“.
Präventionsmaßnahmen sind entscheidend
Menschen, die als Kind Gewalt erfahren haben, leiden meist ihr ganzes Leben an den Folgen. „Viele verdrängen das Geschehene. Sie wissen gar nicht, warum sie medikamentensüchtig oder alkoholabhängig sind, ständig Beziehungsstörungen haben oder suizidgefährdet sind“, weiß Becker. „Die Spätfolgen dürften unser Gesundheitssystem Milliarden kosten. Dennoch wird das Thema gerne ‚höflich ignoriert‘. So gibt es zum Beispiel viel zu wenig Therapieangebote für betroffene Kinder und nicht zuletzt auch für so genannte Tatgeneigte oder potenzielle Wiederholungstäter. “ Für den Experten nimmt die Prävention daher einen hohen Stellenwert ein. Kinder aufzuklären und handlungssicher zu machen, sich zu wehren oder sich frühzeitig jemandem anzuvertrauen, liegt seiner Einschätzung nach insbesondere in der Verantwortung der Eltern. „Es ist beispielsweise in Bezug auf sexuelle Übergriffe wichtig, dass Kinder offen sagen dürfen, dass sie eine bestimmte Berührung nicht wollen – und wenn es nur der Kuss auf die Wange vom Opa oder der Tante ist. Dann trauen sie sich das auch bei Fremden. Viele Täter lassen dann von ihrem Vorhaben ab.“ Darüber hinaus gibt es zahlreiche Präventionsangebote, etwa Theaterstücke, die sich dem Thema Gewalt spielerisch nähern. „Hier können auch Kitas und Schulen viel tun. Es kann auch helfen, sich von einem polizeilichen Präventionsberater unterstützen zu lassen. Gemeinsam kann man Strategien entwickeln, wie man sowohl die Eltern als auch die Kinder erreichen kann.“ Wichtig ist seiner Einschätzung nach auch, Kindern zu vermitteln, dass sie dem Täter keine Angst machen sollten, wenn sie von einem sexuellen Übergriff betroffen sein sollten – etwa indem sie drohen, den Eltern etwas zu erzählen oder ihn anzuzeigen, weil man sich das Autokennzeichen gemerkt hat. „Geraten Täter in Panik, kann so etwas schlimme Folgen haben – bis hin zur Tötung des Kindes, um den sexuellen Übergriff zu verdecken.“
KF/WL (Stand: 17.4.2024)
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